ÐÓÑÑÊÀß ÂÅÐÑÈß

 

Mihail Sidlin

 

Blinde

 

Catalog, "New beginning", Contemporary art from Moscow. Kunsthalle, Dusseldorf

 

Riesige Porträts und kleine Monitore. Fünf Fotografien und fünf Bildschirme. Und die Lieder, die aus den Lautsprechern klingen, überlagern sich. Fünf Blinde singen in einer Unterführung. Derartig große Porträts erdrücken den Betrachter immer. Ihre physischen Parameter sind um ein Vielfaches größer als die Maße eines gewöhnlichen Menschen. Doch in der Gutowschen Serie "Blinde" verblüfft vor allem die Verletzlichkeit der Helden. Sie sind niedergeschlagen, weil man sie unverblümt anschaut und sie begreifen ihre Schutzlosigkeit. Armut, Rechtlosigkeit, Unglück, Entstellung... all diese Probleme haben die russischen Wandermaler des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Sie gingen "unters Volk", um das Leben-wie-es-ist zu malen und ihre Arbeiten außerhalb der üblichen Ausstellungssäle zu zeigen. Dmitri Gutow ist in seinen Projekten ein treuer Anhänger des russischen Realismus des 19. Jh. Die sozialen Kontraste interessieren Gutow seit seinem ersten Fotoprojekt, das er 1997 in der Stadt Urjupinsk verwirklichte. Damals schuf er eine Reihe von hervorragenden Porträts der "neuen Russen".

 

Die Blinden aus der Unterführung sind Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens zu Hause sind. Doch die soziale Bedeutung des Projekts "Blinde" von Dmitri Gutow ist zu augenfällig als dass man über sie sprechen müsste. Deshalb sprechen wir über seine existenzielle Bedeutung. Breughel hat Blinde mit verzerrten Gesichtern dargestellt. Die Blinden auf Gutows Fotografien kann man ebenfalls schwerlich als Schönheiten bezeichnen. Heißt das, dass Hässlichkeit der Schlüssel zu ihrem Charakter ist? Um diese Frage zu beantworten, reicht es aus, sich die Mimik während der Gesänge zu betrachten. Doch wenn man die individuellen Besonderheiten der Blinden als "Hässlichkeit" abtut, gerät man auf den glatten Weg der Selbstverurteilung. Blinde sind Menschen, die sich nicht von der Seite betrachten können. Sie kontrollieren deshalb ihre Gesichtsmimik nicht. All die Leidenschaften, die Sehende hinter ihren Alltagsgesichtern verbergen, liegen bei Blinden an der Oberfläche. Das heißt nur, dass die Porträts von Blinden eigentlich Porträts von gewöhnlichen Menschen sind – nur ohne Masken. Und das ist das Erschreckende an der Installation von Gutow. Die bedingungslose Nacktheit des menschlichen Wesens. Alle sind wir – diese Blinden. Nur nicht alle sind zum Broterwerb zum Singen in der Unterführung gezwungen.