Viktor Misiano.
"Zeitwenden", Kunstmuseum Bonn
Bonn 1999, p. 126-127.


Gutovs Kunst ist keine russische Variante des amerikani­schen Minimalismus, er vertieft: sich auch nicht etwa in die Lektüre Clement Greenbergs, sondern beschäftigt sich mit dem marxistischen Ästhetiker Michail Lifschiz und den phi­losophischen Klassikern Marx und Hegel. Die Avantgarde­idee von einer linearen Entwicklung der künstlerischen Sprache ist seiner Kunst fremd, sein Werk ist konsequent historistisch. Dies zeigt sich auch in seinem jüngsten Video.

Die gymnastiktreibende weibliche Figur ist eine direkte Anspielung auf das Bild Utro (Morgen) der sowjetischen Künstlerin Tatjana Jablonskaja; dieses Werk wurde in den sechziger Jahren in vielen Schulbüchern reproduziert Über­dies geht eine ganze Reihe der Posen unmittelbar auf die antike Plastik und die klassizistischen Sportlerinnenstatuen

der Sowjetzeit zurück. Ein direkter Prototyp läßt sich auch für die Installation Über schwarzem Schlamm ausmachen: Das Muster der auf dem schlammbedeckten Boden verteil­ten Bretter ist eine exakte Wiedergabe einer früheren flächi­gen Komposition von Gutov, die ihrerseits von Werken Lju-bov Popowas und Alexander Rodtschenkos inspiriert war. . Darüber hinaus verweist die Installation zugleich auf einen Höhepunkt der sowjetischen Malerei (wiederum der sech­ziger Jahre!)-auf Juri Pimenows Gemälde Swadba na saw-traschnei ulize (Hochzeit auf der Straße von morgen); ein jungverheiratetes Paar geht auf Brettern über eine Schlamm­wüste in ein gerade fertiggestelltes Hochhaus. Schließlich ist der schwarze Schlamm eine Anspielung auf die misan­thropischen Darstellungen der russischen Natur, die wir bei Alexei Sawrassow und Fjodor Wassiljew, zwei Realisten des 19. Jahrhunderts, finden. Doch halten wir fest: In Gutovs Historismus gibt es keine Spur von postmodernistischer Dekonstruktion. Im Gegenteil: Dies ist ein lebendiges und natürliches Erleben der Vergangenheit als Aktualität und eine Gedankenarbeit, die sich der Lektüre der Hegeischen Ästhetik und Geschichtsphilosophie verdankt.

Gutovs Kunst ist kein Musee imaginaire. Einen Satz sei­nes geistigen Lehrers, des Marxisten Michail Lifschiz, hat Gutov sich zu eigen gemacht: »Es ist an der Zeit, dem müßi­gen Herumreflektieren adieu zu sagen.« Gutov ist von der Realität besessen, und mit seiner Person hat sich in der rus­sischen Kunst die Gestalt des sozial engagierten Künstlers mit kritischer Position ihre Aktualität bewahrt. In diesem Zusammenhang besonders kennzeichnend ist Gutovs Werk Institut Michaila Lifschiza (Michail-Lifschiz-lnstitut) - ein von ihm organisiertes Seminar im Moskauer Zentrum für zeitgenössische Kunst, in dem Diskussionen zwischen Künstlern, Politikern und Philosophen stattfanden. Auch diese direkte Hinwendung zur Realität finden wir nicht nur in seinen frühen Werken, sondern auch in den jüngsten; zeigt das Video Sarjadka (Gymnastik) doch Gutovs eigene Wohnung und seine Frau bei der Morgengymnastik. Wich­tig ist jedoch nicht der autobiografische Aspekt seiner Werke, sondern die Tatsache, daß jedes eine maßstäbliche soziale Metapher ist. So ist die Installation Überschwarzem Schlamm eine Metapher Rußlands, seines historischen Schicksals, und Gymnastik eine Metapher der Standhaftig-keit und Beharrlichkeit des Individuums, das zu einer Exi­stenz »über schwarzem Schlamm« verdammt ist.

1999.