Suhrkamp
p. 709 - 737
Michail Lifšic, Ulybka Džokondy (Das Lächeln der Monalisa)
In dem Abschnitt, den wir der vorliegenden Arbeit zur marxistisch-leninistischen Ästhetik als Motto vorangestellt haben, ist eine Wendung von prinzipieller Bedeutung: „als ich mich schon für tot halten konnte“. Diese Worte beschreiben exakt den gegenwärtigen Zustand dieser Ästhetik. Sie kann sich im wörtlichen, ganz unmetaphorischen Sinn für tot halten. Es gibt keine Geräte, die noch Lebenszeichen von ihr aufzeichnen würden. Was folgt daraus? Aus dem eingangs zitierten Text wird deutlich, dass dieser Zustand in gewisser Hinsicht auch Vorzüge hat. Er ruft uns die Überlegenheit des Bewusstseins über das übermächtige Universum in Erinnerung, um die schon Pascal wusste. Die folgende Abhandlung kann man als Kommentar zu diesem Zitat lesen, und beginnen sollten wir mit seinem Autor, Michail Lifšic.
Die sowjetische Variante der marxistisch-leninistischen Ästhetik war im Wesentlichen das Werk eines Mannes – Michail Lifšic’ (23.7.1905, Melitopol’ – 20.9.1983, Moskau). Kunstinteressierten Kreisen innerhalb der linken westlichen Intelligenz ist der Name Lifšic nicht unbekannt. Dies ist vor allem dem von ihm herausgegebenen Band Marx-Engels über Kunst und Literatur[1] zu verdanken, dessen deutsche Übersetzung mehrere Auflagen erlebt hat, sowie der auf Englisch publizierten Arbeit The Philosophy of Art of Karl Marx,erschienen 1938 in New York und 1973 in London. Zu einer gewissen Bekanntheit Lifšic’ hat auch der Umstand beigetragen, dass Georg Lukács ihm sein Buch Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft gewidmet hat. Es gibt nur sehr wenige englischsprachige Veröffentlichungen von Lifšic, und auch seine russischen Bücher stellen bibliographische Raritäten dar. Einige seiner Texte und eine Bibliographie seiner Arbeiten sind auf http://www.gutov.ru/lifshitz einzusehen.
Über die Peripetien von Lifšic’ Schicksal ist in Russland wenig und außerhalb Russlands so gut wie nichts bekannt. Man muss sie erwähnen, denn sie sind nicht nur von historischem Interesse, sondern werfen auch zusätzlich Licht auf wichtige Aspekte jener Ideen, von denen im Folgenden die Rede sein wird.
Michail Lifšic kam 1905 in der kleinen südrussischen Stadt Melitopol’ zur Welt, im Jahr der ersten russischen Revolution. Zwölf Jahre darauf erlebt Russland seine proletarische Revolution. In Lifšic' Jugend ist sie das zentrale Erlebnis. Auf dieses Ereignis wird er sich zeitlebens beziehen, und die Erinnerung an die ursprünglichen Ziele der Revolution wird er auch in Zeiten wach halten, in denen die Allgemeinheit sie entweder vergessen hat oder nur ungern an sie zurückdenkt. Dass sein bewusstes Leben nicht ein Jahr früher oder später begonnen hatte, betrachtete Lifšic als großen Glücksfall. Schon die wenig später Geborenen hatten das Wichtigste verpasst. Und obwohl sein tatsächliches Leben ein Beispiel für die Absurdität des Daseins abgeben könnte, sah er sich selbst als Zeugen eines Moments, in dem die Welt ausnahmsweise gar nicht so unvernünftig schien.
In Melitopol’, inmitten von Bandenkriminalität, Besatzung, Hunger und Flecktyphus, fallen dem fünfzehnjährigen Lifšic Lenins Schriften in die Hände. Sie hinterlassen einen tiefen Eindruck. Die marxistische Philosophie, so wird er später sagen, war für mich eine Sache der Wahrheitssuche, nicht des Bildungseifers. 1922 kommt Lifšic nach Moskau. Neben dem Lesen ist seine Lieblingsbeschäftigung das Zeichnen. Die Kunst jener legendären Jahre ist heute hinreichend bekannt. Eine der wichtigsten Speerspitzen der radikalen Neuerungen in Russland war damals die neu gegründete Kunsthochschule (Vysšie Chudožestvenno-Techničeskie Masterskie/Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten), an der Lifšic 1923 immatrikuliert wird. Zu diesem Zeitpunkt waren alle bedeutenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Zerstörung des traditionellen, über Jahrtausende gewachsenen Kunstbegriffs schon gemacht. Etwas wirklich Neues konnte man hier nicht mehr tun. Dazu kommt, dass das Unterrichten von Radikalität generell eine in sich widersprüchliche Aufgabe ist. Eine Lektion hat Lifšic bei seinen Lehrern allerdings zweifellos gelernt: Er verbannte alle aus der Gegenwart hinaus, die diese Gegenwart symbolisierten, vor allen anderen seine Lehrer, und er hielt sich dabei in seinen Formulierungen ebenso wenig zurück, wie die Autoren der avantgardistischen Manifeste es getan hatten. Wenn die vitale Energie des VCHUTEMAS zum Ende der Sowjetunion noch irgendwo erhalten war, dann nur in Lifšic’ Texten. Ein Blick in sein in den sechziger Jahren entstandenes Manifest Počemu ja ne modernist? (Warum ich kein Modernist bin?)genügt um festzustellen, dass seine Bereitschaft, den Spießbürger zu schockieren, zeitlebens nicht nachgelassen hat.
Bei alledem wäre es jedoch falsch, die Entstehung von Lifšic' Stilistik aus der Praxis des Modernismus herzuleiten, so sehr er auch davon beeinflusst war. Zudem klänge dies wie eine Art Rechtfertigung seiner Ideen, und seine Ideen gehören nicht zu denen, die einer Rechtfertigung bedürfen. Lifšic selbst stützte sich mit der ihm eigenen Kompromisslosigkeit auf Quellen, die weniger populär, weniger bekannt und nicht im mindesten Aufsehen erregend waren, insbesondere auf die Schriften der russischen revolutionären Demokraten der 1860er Jahre. Im Vorwort zu seinem Buch Iskusstvo i sovremennyj mir (Kunst und moderne Welt, 1978), das ihm den Ruf des reaktionärsten sowjetischen Autors der Breschnew-Zeit eingetragen hat, schreibt er über einen von ihnen: „Doch es ist an der Zeit zu erkennen, dass Černyševskij ein kluger Autor mit einer feinen, manchmal fast unmerklichen Ironie war, der sich – wie Sokrates – um der Erforschung der Wahrheit willen einfältig gab oder seine Zeitgenossen mit kategorischen Urteilen brüskierte, um sie aus ihrem langen Schlaf zu wecken.“
Sein erstes eigenes kategorisches Urteil äußert Lifšic Mitte der zwanziger Jahre, als er die Priorität von Antike und Renaissance gegenüber den neuesten Formen der Avantgardekunst proklamiert. Dies war mehr als eine Umwertung der Werte. Es war eine Herausforderung für jede Weltanschauung, die kein absolutes Koordinatensystem gelten ließ, eine in makellose Formeln gegossene Herausforderung: „Den geläufigen Phrasen unserer Zeit zum Trotz existiert sowohl eine absolute Schönheit als auch eine absolute Wahrheit.“ „Der Relativismus ist die Dialektik der Dummen.“ „Es ist an der Zeit, dem unnützen Hin und Her des reflexiven Denkens Adieu zu sagen.“
Der zweiundzwanzigjährige Autor schreibt seine ersten theoretischen Arbeiten, K voprosu ob estetičeskich vzgljadach Marksa (Karl Marx' ästhetische Ansichten)und Dialektika istorii iskusstva (Dialektik in der Kunstgeschichte), und skizziert darin jene Ideen, deren Ausarbeitung ihn sein Leben lang beschäftigen wird. Während dieser ganzen Zeit revidiert die Welt um ihn herum ihre Ansichten mehrmals so grundlegend, dass Lifšic' unveränderte Position sich vor diesem Hintergrund immer wieder anders ausnimmt – eine bekannte optische Illusion. Von seinen ersten Arbeiten an bleibt sein Denken nicht nur in seinen Inhalten konstant, sondern auch in einer Besonderheit der Formulierungen, in denen es sich äußert: Sie klingen grundsätzlich unpassend. Wenn sich irgendein Ort nicht eignete für die Verbreitung der Idee, dass die echte Begeisterung des Volkes sich nicht in suprematistischen Formen, sondern in einer neuen, an den erhabensten Errungenschaften der Kunst früherer Epochen orientierten Renaissance ausdrücken werde, so war es der VCHUTEMAS. In der weltweit einzigen Zitadelle der proletarischen Kunst der Zukunft wusste man mit derlei Ansichten wenig anzufangen. Der Bruch mit den Lehrern war radikal, eine Fortsetzung des Studiums unmöglich. (Lifšic sollte sowohl Professor als auch Akademiemitglied werden, ohne ein Zeugnis über einen Hochschulabschluss vorweisen zu können.) In der Sowjet-Ära, und zwar auch zu deren Beginn, zählten Debatten über Ästhetik nicht zu den ungefährlichen Beschäftigungen. 1929 sieht sich Lifšic nach einem seiner Plädoyers für das klassische Erbe mit dem harten politischen Vorwurf der „Rechtsabweichung in der Kunst“ konfrontiert, der ernste Schwierigkeiten nach sich ziehen konnte. Wesentlich später notiert Lifšic in seinen Aufzeichnungen über die dreißiger Jahre: „Mein Ziel ist es, das herrschende Schema für die Beurteilung jener Zeit umzustürzen, ein Schema, dem zufolge die freien zwanziger Jahre vom Dogmatismus der folgenden Dekade erstickt wurden. Ein dummes, oberflächliches Stereotyp des öffentlichen Denkens ...“
Die sowjetischen dreißiger Jahre sind eines der dunkelsten und verschlossensten Jahrzehnte der Geschichte. Der Schlüssel zu ihnen fehlt bis heute. Immerhin kommt in unseren Tagen zumindest der zu Verschleierungszwecken geprägte Begriff ‚Totalitarismus‘, nachdem er seine Rolle im Kampf gegen den Kommunismus gespielt hat, allmählich aus dem Gebrauch. Jeder Versuch, dieses Jahrzehnt als einheitliches Ganzes zu beschreiben, ohne den in ihm verborgenen tragischen Widerspruch zu berücksichtigen (das, was Lifšic „die Bitternis des inneren Konfliktes“ nannte), bleibt zwangsläufig an der Oberfläche. In den dreißiger Jahren steckt das Potential für eine Erneuerung der Kunst und deren theoretischer Betrachtung (um von ehrgeizigeren Projekten nicht zu sprechen). Als Denker ist Lifšic die zentrale Figur dieses Jahrzehnts. An seinen Texten kommt man nicht vorbei.
Das Grundproblem, dessen Lifšic sich im Zuge seiner am VCHUTEMAS durchlebten geistigen Krise bewusst wurde, hing mit der Frage zusammen, inwieweit der künstlerische Avantgardismus revolutionär und links war. Diese Frage stellte sich prinzipiell: Gehörte diese Kunst – in ihren klassischen Ausprägungen entstanden zwischen 1907 und 1915, in einer Zeit der Reaktion und der Abschwächung der revolutionären Bewegung – zur proletarischen Welt, oder schleppte sie in diese Welt die Zerfallsprodukte aus der Endphase der Klassengesellschaft ein? Dieses Thema zieht sich durch alle Werke von Lifšic, gleichgültig, wie entlegen oder abstrakt deren Inhalt ist.
Um diese Frage richtig zu beantworten, wendet Lifšic sich dem zu, was man in der Sowjet-Ära ‚Urtexte‘ nannte: den marxschen Schriften. Ab Mitte der zwanziger Jahre lernt er im Selbststudium Deutsch und entdeckt, dass es bei Marx eine ästhetische Konzeption gibt, was zu jener Zeit niemand ahnt. Man nimmt allgemein an, die marxistische Ästhetik müsse praktisch aus dem Nichts heraus geschaffen werden. Lifšic beginnt, sorgfältig alle Äußerungen zur Kunst in Marx' Texten zusammenzutragen, und konzipiert eine Anthologie dieser Fragmente. Die erste Auflage erscheint 1933, eine erweiterte zweite 1938. (1949 wird diese für nicht mit der Kunstpolitik der Partei konform befunden und aus den Bibliotheken entfernt.) Nach 1957 erscheinen mehrere weitere Auflagen. 1938 gibt Lifšic eine zweite, ähnliche Anthologie mit dem Titel Lenin ob iskusstve (Lenin über Kunst) heraus. Mit dieser Arbeit legt er das Fundament der marxistisch-leninistischen Ästhetik. Allerdings ist Lifšic’ Auffassung von dem, was in der Sowjet-Ära unter dieser Bezeichnung firmierte, himmelweit entfernt. Das Verhältnis entspricht dem zwischen Original und grober, vulgarisierender Karikatur. Die Parodie stellte nach Lifšic' Verständnis eine ebenso große Gefahr für den Marxismus dar wie die ultralinke Phrase, deshalb nannte er seine Aufgabe einen Zweifrontenkrieg. Sein ganzes Leben ist vom pausenlosen erbitterten Konflikt einer unabhängigen intellektuellen Position mit den Avantgardisten auf der einen und den Orthodoxen auf der anderen Seite bestimmt. Im Zeitraum von den zwanziger bis zu den achtziger Jahren verschoben sich die Kräfteverhältnisse an diesen Fronten mehr als einmal. Den dreißiger Jahren kommt in dieser Hinsicht die größte Bedeutung zu.
Das Jahrzehnt begann mit einer, so Lifšic, „erstaunlichen Zeit“, mit eine Leerstelle zwischen zwei repressiven Kräften: dem Vulgärmarxismus der zwanziger und der finsteren Dogmatik der späten dreißiger Jahre. Diese Beschreibung erinnert entfernt an das, was die zerfallende Sowjetunion zwischen 1986 und 1991 durchlebt hat, als der altersschwache Repressionsmechanismus nicht mehr funktionierte und die unkontrollierte Macht des Geldes noch nicht zu wirken begonnen hatte. In dieser Zeit war eine besondere Nähe zu solchen Epochen spürbar, die man vielleicht als ‚Zwischenräume‘ bezeichnen könnte; in dieser Zeit wurde auch Lifšic’ Ästhetik wieder entdeckt, als ein eigenständiges Phänomen, das eine ähnliche historische Situation widerspiegelte. Die in einem derartigen Zustand der weitgehenden intellektuellen Freiheit und des grundsätzlich offenen Ausgangs gleich welchen Unterfangens gemachten Erfahrungen sind nicht zu ersetzen. Lenin beschreibt etwas Ähnliches mit dem Anna-Karenina-Zitat von der Zeit, ‚in der alles in Aufruhr geraten ist und sich erst allmählich wieder setzt‘.[2] Was die Ergebnisse seiner theoretischen Arbeit betrifft, sind die dreißiger Jahre die wichtigste Periode in Lifšic' Tätigkeit.
Allerdings war die Zeit, die er als ‚erstaunlich‘ charakterisierte, alles andere als sanftmütig. Ab 1929 arbeitet Lifšic im Marx-Engels-Institut, seit 1930 in der dort eingerichteten Abteilung für Geschichtsphilosophie. Eine Vorstellung davon, wie seine Position sich aus der Sicht der anderen, offiziellen Seite ausnahm, gibt vielleicht das im Folgenden zitierte Dokument. Es handelt sich um einen unlängst veröffentlichten Brief des späteren Akademiemitglieds Pavel Judin an den neuen Institutsleiter Vladimir Adoratskij über die geschichtsphilosophische Abteilung und die dort arbeitenden Herren Lukács und Lifšic: „Zu den Aufgabenbereichen dieser Abteilung gehörte auch der Historische Materialismus. Doch an den Histomat dachten sie dort überhaupt nicht. Allenfalls ein paar zufällig ausgewählte Bücher zum Histomat stehen herum... Keines der Probleme des Marxismus wird behandelt, vom Studium des Leninismus ganz zu schweigen. In keiner der genannten Abteilungen gibt es auch nur ein Buch von oder über Lenin. In der Philosophie-Abteilung existiert ein spezieller Bereich für Philosophie der Gegenwart. Sämtliche obskurantistischen Idealisten (Spengler, Husserl, Špet usw.) sind dort versammelt, Lenin aber haben die Verantwortlichen für die Abteilung nicht zu den Gegenwartsphilosophen gezählt.“
Das wichtigste Jahrzehnt in Michail Lifšic’ Leben ist auch die Zeit, in der er seine grundlegenden Ideen formuliert hat. Die Ereignisse haben jedoch dazu geführt, dass nur wenige schriftliche Texte entstanden sind. Die grundlegenden, zwischen 1931 und 1934 geschriebenen Arbeiten erschienen 1935 gesammelt in dem Band Voprosy iskusstva i filosofii (Fragen der Kunst und Philosophie). Doch selbst wenn man alles zusammennimmt, was Lifšic in diesem Jahrzehnt geschrieben hat, füllt es nicht mehr als einen Band. (Seine Arbeiten der dreißiger Jahre sind in deutscher Übersetzung in Dresden erschienen, wie stets bei Lifšic nicht im günstigsten Moment – 1987, als die DDR-Bürger sich für nichts weniger interessierten als für den Marxismus der Stalinzeit.) Diese lifšicsche Wortkargheit ist eine ernste Schwierigkeit für jeden, der hinter die äußere Hülle dieser Texte vorzudringen versucht. Das Wichtigste in ihnen ist oft kaum wahrnehmbar und nur angedeutet. Es gibt eine private Notiz von Lifšic, die diese äußere Insuffizienz der Quellen, zugleich aber auch die innere Einheit, den Zusammenhang des trotz allem Gesagten zu kommentieren scheint: „Vielleicht wird einem zukünftigen Cuvier ein Knöchel aus meinem Skelett genügen, um das vorsintflutliche Ungeheuer zu rekonstruieren.“ Lifšic’ Hinwendung zur Ästhetik in den dreißiger Jahren war nicht ganz freiwillig. Wie er selbst einmal bemerkte, wahrte man damals zu so ernsten Fragen wie der nach der Priorität der Materie gegenüber dem Geist tunlichst respektvollen Abstand. „Freier zugänglich schien das Minenfeld der Kunst und Literatur, das wir denn auch mit einer für die damalige Zeit unerhörten Kühnheit bearbeiteten, zum Erstaunen der gewöhnlichen Literaturgeschäftsleute und anderer Gauner.“
Von außen betrachtet sieht das Geschehen in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wie eine Umsetzung von Lifšic' zehn Jahre zuvor formulierten Ideen aus. Die Begriffe des ‚Realismus‘, des ‚Schönen‘ und des ‚Klassischen‘ sind nicht nur nicht mehr verpönt, sie werden vehement propagiert. Lifšic, der hierfür nicht orthodox genug wirkt, erfährt keinerlei offizielle Anerkennung. Allerdings erinnern sich Zeitgenossen an seinen enormen Erfolg bei den Studenten. Im Jahr 1937 kommt Lifšic' literarische Aktivität praktisch zum Stillstand. 1941 geht er an die Front, dient in der Dnepr-Kriegsflottille, wird verwundet, bricht nach der Zerstörung der Flottille aus dem Kessel aus. Bei Kriegsende hat er den Rang eines Hauptmanns.
Die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre sind in der Sowjetunion vom ‚Kampf gegen den Kosmopolitismus‘ geprägt, der auch an Lifšic nicht vorübergeht. Er mochte das Memoirenschreiben nicht, doch in einigen seiner Texte findet sich ein gedämpftes Echo auf die Ereignisse seines persönlichen Lebens: „Nach dem Krieg änderte sich vieles, es war eine schwere Zeit. Bei meiner Rückkehr aus dem Kriegsdienst fühlte ich mich völlig in Vergessenheit geraten, wie irgendwo auf dem Meeresgrund, mit einer ozeanischen Schicht ziemlich trüben Wassers über mir. Natürlich will ich mich nicht beklagen – niemand weiß im Voraus, was gut ist für einen Menschen und was schlecht. Bei all ihren dem Leser leicht vorstellbaren praktischen Unannehmlichkeiten war diese missliche Lage in gewissem Sinn von Vorteil für mich, um nur das mindeste zu sagen.“ In Lifšic’ Archiv findet sich eine Postkarte aus harmloseren Zeiten, von 1964. Der Text darauf lautet: „Sehr geehrter Michail Aleksandrovič! In den Tagen des Großen Oktobers drücke ich Ihnen fest die ästhetische Hand und wünsche Ihnen von ganzem Herzen weiterhin Erfolg in Ihrer Arbeit. Beste Grüße! Astachov.“ Auf derselben Postkarte Lifšic’ Zusatz: „Das ist der Dreckskerl, der 1949 von der Tribüne verkündet hat, ich sei ‚im trotzkistischen Untergrund groß geworden’, ich verbreite eine ‚undurchsichtige, schmutzige, gemeine Philosophie’ und sei ein ‚Ideologe der Dekadenz’.“
Am Anfang der Zeit, die man gewöhnlich als chruschtschowsche Tauwetterperiode bezeichnet, steht die Veröffentlichung von Michail Lifšic’ Artikel „Dnevnik Marietty Šaginjan“ („Das Tagebuch der Marietta Šaginjan“)in der Zeitschrift Novyj mir (Nr. 2, 1954) – einem satirischen Pamphlet, in dem der Autor ein Porträt der stalinistischen Intelligenz mit ihren leeren Phrasen, ihrer Heuchelei und ihrer verblüffenden Verbindung von epischem Enthusiasmus mit Gleichgültigkeit und Desinteresse für die Sache zeichnete. Das Porträt war brillant, auch wenn sein Gegenstand an sich keinen besonderen Reiz hatte. Marietta Šaginjan war nicht die einzige Person, mit der Lifšic im Lauf seines Lebens auf Dutzenden von Seiten erbarmungslos abrechnete. Über die Effektivität einer solchen Verwendung seiner Kräfte kann man verschiedener Meinung sein. Marx zumindest hat uns unter anderem seine Schrift Herr Vogt hinterlassen. Lifšic führt einmal Goethes Worte über Lessing an, die Schriftsteller in Lessings Epoche lebten wie Insekten im Bernstein. Zur Philosophie habe Lessing geschwiegen, so Lifšic: „Solche Themen nahm er nicht in Angriff, und er hatte recht, obwohl daraus keineswegs folgt, dass er glücklich war. Im Gegenteil war Lessing, wie wiederum Goethe sagte, sehr unglücklich ob der Nichtigkeit der Gegenstände, mit denen er sich gezwungenermaßen beschäftigte, und weil diese Beschäftigung mit permanenter Polemik verbunden war.“
Die Resonanz auf die Publikation in Novyj mir war grandios. In offiziellen Reaktionen wurde Lifšic ‚ungesunder, kleinbürgerlicher Nihilismus‘ vorgeworfen, Infragestellung der sozialistischen Ideale ‚im siebenunddreißigsten Jahr unseres Weges‘, Snobismus und Verbreitung antipatriotischer Ideen. Er wird aus der Partei ausgeschlossen und verstummt auf längere Zeit.
Für die Generation, die in den sechziger Jahren die Arena betritt und weder von Lifšic’ Rolle in den Diskussionen der dreißiger Jahre noch von seinen Veröffentlichungen in Novyj mir in den fünfziger Jahren auch nur die geringste Vorstellung hat, ist sein Auftreten ein Schock. Im Jahr 1966 fällt Lifšic nichts Besseres ein, als vierzig Jahre nach seiner VCHUTEMAS-Erfahrung abermals mit einem Manifest gegen die zeitgenössische Kunst an die Öffentlichkeit zu treten: Warum ich kein Modernist bin? Es erscheint auf den Seiten des Berliner Forums und der Literaturnaja gazeta. Ein einziger kurzer Text (publiziert zu einer Zeit, als jedes kritische Wort über die Avantgarde eindeutig als Wiederbelebung des Stalinismus aufgefasst wird) verhilft Lifšic zu beispiellosem, skandalträchtigem Ruhm als leibhaftiger Verkörperung des Obskurantismus. Das Manifest wird scharf und deutlich verurteilt. Die Beiträge aus den Debatten und Podiumsgesprächen rund um die Verdammung dieser Publikation und ihres Autors archiviert Lifšic säuberlich in zwei Ordnern mit der Aufschrift ‚Chor der Grünschnäbel‘ und ‚Die Mäuse trauern um die Katze‘.
Hier ein an Lifšic adressierter Brief des Kunsthistorikers, ehemaligen Häftlings der stalinschen Lager und zukünftigen Dissidenten Lev Kopelev von 1966: „Michail Aleksandrovič! Ich schicke Ihnen meinen Artikel, da ich bezweifle, dass man ihn irgendwo drucken wird, und ich möchte, dass Sie ihn lesen. Bisher hielt ich es nicht für nötig, Ihr Urteil über Kunst anzufechten, da ich Ihre übrige Publizistik (die Pamphlete gegen Šaginjan, Razumnyj u. a.) sehr schätze. Mit Ihren Artikeln im Forum und in der Literaturnaja gazeta aber haben Sie sich so klar als Vorkämpfer der reaktionärsten Kräfte im gegenwärtigen internationalen Kulturleben zu erkennen gegeben, dass ich nicht anders kann, als Ihnen entschieden zu widersprechen. Ich hoffe, Sie haben sich noch nicht endgültig mit der Rolle des Protopopen Avvakum im modernen ästhetischen Altgläubigentum identifiziert und sind imstande, Ihre eigenen Fehler, Irrtümer und Vorurteile in gewissem Maß kritisch zu bewerten. Mit den besten Wünschen, Lev Kopelev.“
Dass der Inhalt seiner ‚übrigen Publizistik‘ und die Kritik der Avantgarde für Lifšic weitgehend identisch waren, überstieg Kopelevs Vorstellungskraft. Lifšic nimmt nicht nur keine kritische Bewertung seiner Irrtümer vor, er provoziert den radikalen Bruch mit der Intelligencija und veröffentlicht wenig später sein Buch Krizis bezobrazija (Die Krise des Hässlichen) – eine wahre Bibel des Antimodernismus, das theoretische Hauptwerk eines sowjetischen Marxismus, der das gesamte ästhetische Projekt der Gegenwart in Frage stellt. Es gibt im 20. Jahrhundert kein zweites Werk, das nicht nur die bürgerliche Welt, sondern zugleich auch sämtliche Formen der avantgardistischen Kritik an dieser Welt einer so vernichtenden Kritik unterzogen hätte. Wie immer bei Lifšic war der Zeitpunkt der Publikation nicht eben günstig. 1967 in Druck gegeben, erscheint das Buch 1968 und wird gelesen unter dem Rasseln sowjetischer Panzerketten, die in der Tschechoslowakei den ‚Prager Frühling‘ niederwalzen sollen. Wer bis dahin noch an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geglaubt hat, verliert nun die letzte Hoffnung. Es beginnt eine Epoche der allgemeinen Enttäuschung, der verlorenen Illusionen. Besonders frappierend wirkt Lifšic' Buch über die ästhetischen Aspekte dessen, was Lenin den ‚Linken Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus‘ nannte, vor dem Hintergrund des ultralinken achtundsechziger Jugendaktivismus in Europa und der Bewegung der Roten Garden in China.
Lifšic verteidigt Marx’ und Lenins Ansichten zur Kunst in dem klaren Bewusstsein, dass er keine Chance hat, gehört zu werden. Noch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre schreibt er einen Text mit dem Titel Na derevnju deduške (An den Großvater im Dorf), also einen Brief ins Nirgendwo. (Zu seiner Entstehungszeit von der Zensur zurückgehalten, erscheint er 1990 in einer Auflage von 300 Exemplaren.)
In den siebziger Jahren wird Lifšic mit seiner Liebe zur klassischen Kunst und seiner Hoffnung auf ihre letztliche Auferstehung (einer Idee, die schon jenseits des Vorstellbaren liegt) zu Suslovs Cheftheoretiker erklärt. Suslov ist der zweite Mann in der Partei nach Breschnew, unter Stalin Sekretär für Propaganda, ein grauer Kardinal, dessen Name für die Verfolgung jeder, auch der geringsten Abweichung von der marxistischen Orthodoxie steht. Die stoische Ruhe, mit der der Autor der Krise des Hässlichen das ihm entgegengebrachte – gelinde gesagt – Unverständnis aufnahm, erklärt sich aus seiner gesamten Biographie. Verglichen mit den Diskussionen, an denen er seit Mitte der zwanziger Jahre teilgenommen hatte und deren Argumentation nach Lifšic' Beschreibung oft wie ein Granateinschlag, wie ein Gruß aus dem Jenseits klang, mussten ihm die Anschuldigungen der siebziger Jahre natürlich wie harmloses Kindergeplapper vorkommen. „Man braucht einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst, um dem Bild, das andere von einem haben, mit Verachtung zu begegnen“, schrieb er über Voltaire.
1972 veröffentlicht Lifšic den Band Karl Marks. Iskusstvo i obščestvennyj ideal (Karl Marx. Kunst und soziales Ideal), eine Zusammenstellung seiner Arbeiten aus den Jahren 1927–1967. Der in einen aussichtslosen Krieg gegen die Dissidenten verstrickten Staatsmacht kommt es auf inhaltliche Feinheiten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr an. 1973 erwirbt der beinahe siebzigjährige Lifšic mit diesem Buch den Titel eines Doktors der Philosophie, bald darauf wird er auch in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen. In seinen letzten Lebensjahren arbeitet er an einer Systematisierung seiner in den dreißiger Jahren entstandenen und aufgrund der dramatischen Zeitumstände nicht ausgearbeiteten Ideen. Lifšic' plötzlicher Tod 1983 kommt der Vollendung vieler seiner begonnenen Arbeiten und der Veröffentlichung vieler der abgeschlossenen zuvor. Sein riesiges Archiv bleibt in Hunderten von Ordnern zurück, deren Gestaltung man übrigens die Hand des Künstlers und ehemaligen VCHUTEMAS-Studenten ansieht.
Das Gros von Lifšic' Arbeiten, zuvor verstreut in sowjetischen Periodika publiziert, ist versammelt in einer zwischen 1984 und 1988 erschienenen dreibändigen Ausgabe. 1985 erscheint unter dem Titel V mire estetiki (In der Welt der Ästhetik) ein Band bisher unveröffentlichter Lifšic-Texte, darunter die programmatische Arbeit Čevolek 1930-ch godov (Der Mensch der dreißiger Jahre), eine Einführung in die Problematik des intellektuellen Lebens jener Zeit. War schon im Leben des Autors manches zur falschen Zeit geschehen, so treiben diese postumen Publikationen das Prinzip des unzeitgemäßen Handelns auf die Spitze. Unpopulärere Themen als die in den Überschriften dieser Werke angeschnittenen waren schlicht nicht denkbar. Das dringendste Anliegen der Zeit war die Erlösung vom unerträglichen sowjetischen System.
Zur selben Zeit, an der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren, stoßen einige Künstler mehr oder weniger zufällig auf Texte von Lifšic. Etwas Nonkonformistischeres, in krasserem Widerspruch zum Zeitgeschehen Stehendes konnte man in diesen Jahren der antikommunistischen Massenhysterie kaum finden. 1991 veröffentlichte die erste unabhängige Kunstzeitschrift Konec XX veka (Das Ende des 20. Jahrhunderts)(die, wie viele der damaligen Projekte, über eine Ausgabe nie hinausgekommen ist) einen Text von Lifšic, den dieser seinem Buch V mire estetiki (In der Welt der Ästhetik)als Vorwort hatte voranstellen wollen, der aber seinerzeit die Zensur nicht passiert hatte. Der Text erschien ohne jeden Kommentar, denn er wurde bestens ergänzt durch die Ereignisse, die sich direkt vor dem Fenster abspielten. Jahre zuvor schon hatte Lifšic seine Diagnose der sowjetischen Intelligencija formuliert und deren Stimmung als die Wut eines überheblichen Spießbürgertums beschrieben, dessen Ziel die moralische Vernichtung der marxistischen Tradition war.
Zu diesem Zeitpunkt beginnt im Land schon die mit allen verfügbaren Waffengattungen ausgetragene Schlacht um das gewaltige Volkseigentum. Die von Marx beschriebene Phase der ‚ursprünglichen Akkumulation des Kapitals‘, für die sowjetische Bevölkerung einst eine bloße Aneinanderreihung leerer Worte, braucht man nun nicht mehr in Büchern zu studieren. In dieser Phase der ersten Bekanntschaft mit der Welt des freien Unternehmertums setzt auch eine Neubewertung des klassischen marxistischen Erbes ein. Sie geschieht langsam, aber unaufhaltsam. Am 29. September 1993 erscheint in der Zeitung Kommersant’-daily eine Notiz unter der Überschrift „Michail Lifšic findet endlich seinen Leser“, in deren Einleitung es heißt: „Gestern fand in der Akademie der Künste eine Sitzung zum zehnten Todestag des großen Theoretikers und quasi alleinigen Begründers der marxistisch-leninistischen Ästhetik Michail Lifšic statt. Lifšic' Name schien bis vor kurzem fest mit der Verfolgung jeder geringsten Abweichung vom Realismus verbunden, ein Synonym für Konservatismus und Obskurantentum. Die Sitzung zum Gedenken an den letzten russischen Marxisten blieb selbst innerhalb der Akademie unbemerkt. Die Teilnehmer ließen sich an zwei Händen abzählen. Seltsamerweise waren unter ihnen auch Vertreter der radikalsten zeitgenössischen Kunstströmungen, für die Lifšic überraschend wieder aktuell geworden ist.“
1994 gründen mehrere durch ihr Interesse für die sowjetische Ästhetik verbundene Künstler das Moskauer Lifšic-Institut. Die Presse der Zeit interpretiert jede Bezugnahme auf den klassischen Marxismus oder auf die dreißiger Jahre und insbesondere auch das Lifšic-Institut als Beispiele einer ‚Poetik der Schockeffekte‘. Die Wahl des Namens Lifšic wirkt Anfang der neunziger Jahre wie ein Skandal, sie wird in eine Reihe gestellt mit gewaltsamen, extremen Gesten, wie sie die neue russische Künstlergeneration vielfach an den Tag legt. Wieder einmal kleidet die Avantgardekunst sich in jenen Jahren in die Formen von Widerstand, Revolution und Radikalismus; noch einmal führt sie vor, wie „‚Sturm und Drang’ aller Art begeistert aufgenommen wird von einem Publikum, das in jeder Raserei eine psychologische Kompensation der eigenen Nichtigkeit sieht, das billig erkaufte ‚Zuckerbrot[3] der Freiheit‘, so Lifšic' Beschreibung vergleichbarer Situationen. In den neunziger Jahren, in der postkommunistischen russischen Kunst, wird solchen Aktivitäten ein besonderer Wert zugeschrieben (wovon man sich in dem ebenfalls im vorliegenden Band erschienenen Text von Anatolij Osmolovskij überzeugen kann). Doch auch vor diesem Hintergrund wirkt die Einrichtung des Lifšic-Instituts nach den Worten des Kritikers Viktor Miziano wie ein ‚exzentrischer, riskanter Schritt, der mit keinerlei Verständnis oder Sympathie rechnen können wird‘.
Grundlegend zu ändern beginnt sich die Lage ab dem Jahr 2000, als in einer von den Erfolgen der Globalisierung zunehmend erschöpften Welt die nächste Generation die Bühne betritt. Sie hat keinerlei direkte Erfahrung mit dem sozialistischen Alltag und ist frei von belastenden Erinnerungen, dafür kennt sie die Realität des postmodernen Kapitalismus aus eigener Anschauung. Ultralinker Radikalismus wird in Russland zur neuen sozialen Mode. Dem Gesetz der Pendelbewegung entsprechend erscheint Lifšic nun wieder einmal als konservativ, nicht links genug und eher ungeeignet für sofortige revolutionäre Aktionen. Einem anderen Gesetz zufolge – Lifšic nannte es das Gesetz der Erhaltung des Denkens – existiert jedoch auch die entgegengesetzte Dynamik: Kein anderer sowjetischer Denker war zu seiner Zeit so sehr in Verruf, und kein anderer Denker der Sowjet-Ära weckt heute mehr Interesse.
Auf das Motto unserer Arbeit zurückkommend, können wir sagen, dass der Zustand, „als ich mich schon für tot halten konnte“, nicht nur auf die Zeit des Krieges gegen den Faschismus beschränkt war, sondern Lifšic’ ganzes Leben immer wieder prägt. In solchen Momenten lächelt er. Dieses deplazierte Lächeln enthält ein Moment von Ironie. Es gibt Lebenslagen, so bemerkt er an anderer Stelle einmal, „in denen nur ein ironischer Kommentar über uns selbst unseren Blick von der Kluft zwischen gereifter Einsicht und tatsächlichen Kräfteverhältnissen ablenken kann“. Diese Selbstironie durchzieht die meisten von Lifšic’ Texten, auch wenn sie manchmal (erinnern wir uns an die bereits zitierten Worte über Černyševskij) kaum wahrnehmbar ist. Das in diesem Satz geäußerte Verhältnis zur Ironie verweist in seinem Kern auf die marxistische Auffassung des Tragischen. Überhören wir diese entscheidende Nuance im Tonfall, so werden wir von der marxistisch-leninistischen Ästhetik rein gar nichts verstehen. Diese Ästhetik fragt sich unentwegt: Was kann man tun in einer Situation, in der man nichts mehr tun kann? Wenn Lifšic die Kluft zwischen gereifter Einsicht und tatsächlichen Kräfteverhältnissen erwähnt, zitiert er damit indirekt den Briefwechsel zwischen Marx/Engels und Lasalle über dessen Drama Franz von Sickingen. Dort wird die Tragödie definiert als Unmöglichkeit, eine unaufschiebbar gewordene historische Aufgabe zu lösen, weil die realen Mittel dazu fehlen. Selbstironie ist also eine der Erscheinungsweisen des Tragischen. Ich beeile mich, über alles zu lachen, um nicht gezwungen zu sein, darüber zu weinen, sagt Lifšic mit Figaro.
In der feinen Ironie der marxistisch-leninistischen Ästhetik schlug sich die Tragödie der historischen Aufgabe nieder, die in der Oktoberrevolution und zuvor schon bei Marx formuliert worden war. Die Geschichte hatte ihre Kräfte falsch eingeteilt. Es war nicht das erste Mal. Man kann nur staunen über die Beschränktheit all der Autoren, die bis heute fragen, worin Marx’ Fehler lag, was er übersehen hatte! Wenn das Bewusstsein, dass die reale Lebenssituation unmenschlich ist, bereits vorhanden ist, die physische Möglichkeit, den Gang der Ereignisse umzulenken, aber fehlt, soll man dann das Bewusstsein verleugnen? Tatsächlich ist auch das eine mögliche Lösung. Auf ihre Analyse werden in der marxistischen Kritik der zeitgenössischen Kunst viele Seiten verwendet. Sie ist jedoch gewiss nicht die marxsche Lösung. Wo das Recht des Begreifens auf das ihm gleichwertige Recht der real existierenden Kräfte stößt, spielt sich so etwas wie eine griechische Tragödie ab. Wer wollte heute den Beweis antreten, dass deren Helden zu begriffsstutzig waren? Dass sie eine bessere Lösung hätten finden können?
Es ist absurd, sich als Lehrer aufzuspielen, der Marx einer strengen Prüfung unterzieht (und immer wieder denselben groben Fehler bei ihm entdeckt: die Idee des Kommunismus) – ausgerechnet Marx, der schon in seiner Jugend schrieb: Wir sagen der Welt nicht, wofür sie kämpfen soll, sondern nur, worum sie kämpft.[4] Anzeichen dafür, dass dieser Kampf kein glückliches Ende finden würde, gab es bereits relativ früh. Sie machen sich schon in den letzten Arbeiten von Lenin bemerkbar, in denen er schreibt, eine Revolution sei leichter zu vollbringen als eine Amtsreform in den sowjetischen Behörden. Die kommunistischen dreißiger Jahre waren für die Erkenntnis dieser Niederlage von entscheidender Bedeutung. In dieser Zeit entstand die Kluft zwischen der in der Revolution formulierten Idee und den Möglichkeiten ihrer realen Umsetzung. Eine Kluft, wie Lifšic schreibt, vor deren Anblick uns ein ironischer Kommentar über uns selbst bewahren kann.
Die Situation, in der ich ‚mich schon für tot halten‘ kann, in der nichts mehr zu tun bleibt, erhellt die gesamte Geschichte der Weltkultur. Eben damit hängt auch die Bedeutung zusammen, welche die klassische Kunst in der Stalinzeit erhält. Das Problem der Klassik definiert Lifšic mit Belinksij als das der menschlichen Resignation, der Demut vor dem gegebenen Stand der Dinge in der Welt, vor den ‚tatsächlichen Kräfteverhältnissen‘. Eben dies nennt Lifšic in der eingangs zitierten Passage das Staunen über das Leben, die Fähigkeit, aus sich selbst herauszutreten und sich von außen zu betrachten. In seinen Formulierungen der dreißiger Jahre ist das Streben nach größter kontemplativer Ruhe, nach plastischer Harmonie, Vollkommenheit der Form und äußerster Schlichtheit des Inhalts nicht zu trennen von jener tragischen Kluft, vor deren Anblick uns dieses klassische Kunstprinzip bewahren soll. In Anbetracht der Dinge, die im Land geschehen, wirkt der Verzicht auf leidenschaftliche Plädoyers und subjektive Parteinahme zutiefst reaktionär. „Wenn man die bei uns üblichen Maßstäbe für Progressivität anwendet“, schreibt Lifšic auf dem Höhepunkt der Repressionen 1938, „dann muss man Sophokles, Polyklet, Leonardo, Shakespeare, Cervantes, Stendhal, Balzac, Walter Scott und Dickens entweder ausmustern oder so korrigieren, dass sie eine politische Tendenz bekommen.“
Wo die Einmischung in die praktischen Angelegenheiten der Welt sinnlos geworden ist, erfährt die kontemplative Kraft eine machtvolle innere Befreiung. Man kann dies in hegelscher Terminologie als Versöhnung mit der Wirklichkeit bezeichnen, allerdings eine Versöhnung ganz besonderer Art. Sie birgt einen Widerstand, sogar eine gewisse Gewalt, die man sich nunmehr selbst antun muss, um sich – wie Lifšic' sagt – daran zu gewöhnen, dass man sich nicht gewöhnen kann. Im Zusammenhang mit der menschlichen Resignation der ‚letzten Klassiker‘ Goethe und Puschkin schreibt er, die historische Wirklichkeit ihrer Zeit sei auch mit Hilfe der größten kontemplativen Kraft nur schwer auszuhalten gewesen.
Es gibt Situationen im Leben, in denen der konsequenteste, radikalste Protest gegen das Bestehende sich in seinem Gegenteil manifestiert, die Gestalt der Demut annimmt. In diesen Epochen ungünstiger äußerer Umstände lässt sich der revolutionäre Inhalt nur durch Anabiose bewahren. Er existiert mit verlangsamten Lebensabläufen weiter und wartet so auf bessere Zeiten, in denen er wieder aufgeweckt werden kann. Es gibt auch den umgekehrten Vorgang: Zuweilen bewahren die äußerste Servilität und der Konformismus, oder einfach nur die Unfähigkeit, über den bürgerlichen Horizont hinauszublicken, „aus sich selbst herauszutreten“, ‚ihren‘ Inhalt in der Form ‚ihres‘ Gegenteils – der ekstatischen Rebellion. Eben das meinte Lenin, als er den Anarchismus als „umgestülpte Bürgerlichkeit“ bezeichnete.
Das Wort ‚Demut‘ klingt heutzutage befremdlich. Wollte man einen möglichst unzeitgemäßen Begriff finden, so gäbe es kaum einen geeigneteren. Zur Rehabilitation des (seinerzeit ohne reguläre Gerichtsverhandlung verurteilten) Wortes ‚Wahrheit‘ ist man inzwischen schon bereit. ‚Demut‘ dagegen – das geht wirklich zu weit! Doch wir wollen nicht vergessen: Wir haben es mit Phänomenen zu tun, die sich ‚schon für tot halten‘ konnten und deshalb Ansichten von einer Kühnheit erlaubten, wie sie denen, die noch irgendwie davonzukommen hofften, im Traum nicht einfielen.
Es ist interessant, diese Überlegungen zur Kunst mit der schon in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie dargelegten marxistischen Auffassung des Proletariats zu vergleichen. Marx schreibt, eine positive Möglichkeit der Befreiung liege in „der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird ..., welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ Wir erinnern uns, das Proletariat hat nichts zu verlieren.
Diese Beschreibung bringt uns wieder zum Motto unserer Arbeit zurück. Wir haben es hier mit demselben Phänomen zu tun: mit einer Klasse, die sich schon für tot halten kann und deshalb die Möglichkeit hat, die endlichen Grenzen ihrer selbständigen Existenz zu überschreiten, universell zu werden, wodurch sie nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu befreien, ohne zugleich auch alle anderen Sphären der Gesellschaft zu befreien. Dies ist kein ekstatischer Klassenegoismus im Kampf gegen die feindselige Realität und auch keine Kapitulation vor dem sinnlosen Lauf der Dinge. Es ist ein Geschehen, das mit der interesselosen intellektuellen Betrachtung klassischer Kunst in ihren konservativsten Ausprägungen verwandt ist. Auch dabei vollzieht sich derselbe Durchbruch zum Universellen, zur Fähigkeit, sich selbst von außen zu betrachten. Es ist der paradoxe Punkt, an dem die äußerste, jenseits jeder Vorstellung von Selbsterhaltung angekommene Verzweiflung mit der humanistischen Tradition der Weltkultur zusammenfällt. Der Gedanke vom Proletariat als einzig legitimem Erben der deutschen klassischen Philosophie. Der Moment, in dem die Wirklichkeit selbst sich zum Gedanken drängt, dessen Blitz in das naive Volk fährt.
In ihrer Verteidigung der klassischen, realistischen Kunst deckt die marxistisch-leninistische Ästhetik deren verborgene revolutionäre Sprengkraft auf. Sie findet die radikalste Kritik des Bestehenden in ihr – eine Kritik des falschen Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Welt. Und radikal sein heißt nach Marx, die Sache an der Wurzel zu fassen. In Marx vereinigen sich für die sowjetische Ästhetik zwei globale Strömungen: der Befreiungskampf des Volkes, der seinen Ursprung in einer Sphäre der vollständigen Vernichtung des Menschen hat, und die höchsten Errungenschaften künstlerischen Genies. Die Frage, welche Bedeutung dieses oder jenes Kunstphänomen für die Revolution hat, lässt sich somit nicht stur schematisch beantworten. Ob der Inhalt eines Werks zur Befreiung der Gesellschaft beiträgt, hängt nicht von seinem Etikett ab, und erst recht stellt die revolutionäre Zerstörung der schönen, klassischen Kunstformen keine Garantie dafür dar – daran ändert auch die Meinung der wildentschlossensten Autoren nichts. Die Etikettierung ideologischer Waren unterscheidet sich von der anderer Waren bekanntlich dadurch, dass durch sie nicht nur der Käufer geprellt wird, sondern oft auch der Verkäufer.
In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen, heißt es bei Marx. Dies gilt auch für den Begriff der ‚Demut‘. Eine Revolution, die äußerlich dem Konservatismus gleicht, aber beharrlicher und bewusster ist als der Drang des subjektiven Willens, das ist es, was die marxistisch-leninistische Ästhetik interessiert. Die einfachen Worte, in denen sie sich artikuliert, sagen dem Leser der Gegenwart entweder gar nichts mehr, oder sie sagen das genaue Gegenteil von dem, was sie ursprünglich bedeuten. Wahrheit, Realismus, Parteilichkeit, Abbild, gesellschaftliches Ideal – das lebendige Fleisch dieser Begriffe ist heute verwest, geblieben sind nur die Knochen. Auf einen zukünftigen Cuvier wartet hier viel Arbeit. Allerdings ist inzwischen klar, dass die Verwendung der marxistischen ästhetischen Termini in der Alltagssprache keinerlei Sinn hat.
So bedeutet Wahrheit innerhalb jenes Wortschatzes nicht die Übereinstimmung unseres Denkens mit der realen Lage der Dinge, sondern die Übereinstimmung eines Gegenstands mit sich selbst, mit seinem eigenen Begriff. Realismus umfasst hier ein sehr weites Feld von Erscheinungen, in dem neben Courbier, Repin und Praxiteles auch für die afrikanische Plastik, für die altrussische Ikonenmalerei und für Grünewald Raum ist, aus dem aber auch manches herausfällt (zum Beispiel ein beträchtlicher Teil dessen, was man gemeinhin ‚sozialistischer Realismus‘ nennt). Abbild schließlich meint nicht Meisterschaft im Kopieren, sondern vielmehr, dass das Objekt in einen Zustand der Abbildbarkeit eintritt. Doch es wäre unklug, an dieser Stelle näher auf diese Themen eingehen zu wollen.
Eine der Besonderheiten der sowjetischen Ästhetik besteht in einer gewissen, ihr immanenten inneren Undurchdringlichkeit. Lifšic schreibt in Bezug auf Hegel einmal: „Man kann natürlich fragen, wozu dieses erstaunliche Genie sich eine eigene, dem gewöhnlichen Sterblichen unverständliche ‚Göttersprache’ geschaffen hat.“ Dieselbe Frage stellt sich auch im Hinblick auf Lifšic selbst. In der kristallenen Klarheit seiner Texte liegt eine besondere Dunkelheit – ähnlich, wie die Tiefe eines allzu klaren Wassers sich nicht bestimmen lässt, weil der Grund zu nah erscheint. Der wesentliche Unterschied zu Hegel liegt darin, dass die Sprache der sowjetischen Ästhetik bis zur Armseligkeit einfach und verständlich wirkt. Sie löst nicht jenes Schwindelgefühl aus, das Antitexte bescheren können, die manchmal jeglichen Sinns zu entbehren scheinen. Im Gegenteil, hier wird eher Allgemeinverständlichkeit vorgetäuscht, sogar Banalität. Auch diese Besonderheit des Schreibens hängt mit dem Zustand zusammen, den wir mit dem Ausdruck ‚sich schon für tot halten‘ bezeichnet haben. Neben Ironie bedarf es auch einer gewissen Dosis Trivialität in der Beschreibung einer Situation, in der die beste Idee zu ihrer Ausführung in eklatantem Widerspruch steht – einem Widerspruch, der seinen Grund in der Schwierigkeit der Idee hat. Wie wir aus den Überlegungen des späten Lenin in Erinnerung haben, war die Diskrepanz zwischen Büchern, Gedanken und Losungen auf der einen und dem realen Lauf der Dinge auf der anderen Seite die größte Gefahr für die Oktoberrevolution. So blieb es, solange alles in Aufruhr war und sich erst allmählich wieder setzte. Danach brach eine Zeit an, in der sich alles gesetzt hatte und in der es galt, den Blick von dieser in absehbarer Zukunft nicht überwindbaren Kluft abzulenken. Es gibt Situationen, in denen die paradoxe Vereinfachung der Form den einzigen Weg darstellt, den Inhalt des Denkens für bessere Zeiten zu bewahren, in denen alles scheinbar absichtslos gesagt wird, beiläufig, unauffällig, in der Hoffnung, dass es dennoch verstanden wird. Manchmal erfordert eine solche Situation auch eine ‚Göttersprache‘.
Bekanntlich entstehen optische Täuschungen dort, wo Strahlen sich beim Übergang zwischen Medien unterschiedlicher Dichte brechen. An der Grenze zwischen diesen Medien ändern sie ihre Richtung (manchmal bis zur Unerkennbarkeit), und wenn wir herausfinden wollen, wie weit der Grund des Wassers tatsächlich entfernt ist, müssen wir entweder in es eintauchen oder die Entfernung mit anderen Methoden messen. An der Schwelle von den achtziger zu den neunziger Jahren erschien der Thermidor, der einst im Zentrum der Aufmerksamkeit der dreißiger Jahre gestanden hatte, in einer neuen, verbesserten Version. So gesehen fanden wir uns plötzlich in einer Umgebung wieder, die in einigen ihrer Merkmale an jene Zeit erinnerte. Aus demselben Grund interessierten sich die dreißiger Jahre auch so sehr für Hegel und alle vergleichbaren Situationen der Weltkultur, in denen die Bewegungen vom Magnetfeld der Konterrevolution, der Reaktion beeinflusst waren. Betrachtet man dagegen die äußeren Erscheinungsformen der Zeitläufe, so hat die Periode der postkommunistischen Privatisierung mit ihren Manifestationen von phantastisch anmutender Profitgier, Spekulation, Diebstahl und Betrug, mit ihren entfesselten Leidenschaften und ihren monströsen Formen des Existenzkampfes und der Gewalt formal wenig mit den dreißiger Jahren gemein. Einige Grundeigenschaften teilen beide Zeitabschnitte dennoch auch auf dieser Ebene. Beide waren geprägt von einer elementaren, dumpfen, auf maßlosem Egoismus beruhenden Bewegung von unten, die die übelsten Elemente an die Spitze brachte. Der Unterschied liegt darin, dass wir es im einen Fall mit der Entfaltung und der Degeneration einer Revolution zu tun haben, im anderen mit dem Zerfall von etwas, das schon seit langem mit einem Bein im Grab stand.
Durch Wiederholung wird das, was erst nur zufällig und möglich schien, zu etwas Wirklichem, Feststehenden, schreibt Lifšic. „Die Wiederholung ein und desselben ist ein wichtiges Element des Lebens allgemein, es begleitet sowohl den Aufstieg als auch die Katamorphose, den Untergang eines bestimmten Bereichs der Realität.“ In dieser Wiederholung gelangt der Zerfall der revolutionären Idee bis an die Schwelle ihrer Existenz; sie erreicht ihren klassischen Zustand, ihre volle Reife. Und eine Krise, so bemerkt Marx einmal, kann theoretisch erst genutzt werden, wenn sie voll ausgereift ist. Die marxistisch-leninistische Ästhetik als Abbild einer Epoche, in der die Revolution sich schon als Sterbende erkennt, kann jetzt, aus der Perspektive der Vollendung dieses Prozesses, neu gelesen werden. Innerhalb des Prozesses ist ihre Stimme zu leise, unhörbar in der Kakophonie des Niedergangs, und ihre Äußerungen werden allzu wörtlich verstanden.
In seiner Analyse des berühmten hegelschen Diktums, ‚was wirklich ist, ist vernünftig‘, befand Lifšic, eben dies sei ein maximal ausformulierter Gedanke über die Unvernunft der Welt, ein paradoxer Ausdruck der Distanz zwischen den Forderungen der Vernunft und den irdischen Kräfteverhältnissen. (Demgegenüber besteht die gegenteilige Aussage, ‚was wirklich ist, ist unvernünftig‘, gerade darauf, dass es durchaus noch Hoffnung gibt, dass jenseits des Wirklichen eine vom Zerfall unberührte Region der Vernunft existiert, von der aus eine solche Meinung ausgesprochen werden kann.) Große Persönlichkeiten seien gezwungen, alles andere zu sagen als das, was sie denken, notiert er in einem seiner Manuskripte. Es sei Sache der Nachkommen herauszufinden, was sie wirklich sagen wollten. Und er illustriert seinen Gedanken mit Beispielen: „So geschehen mit Hegel und seinem preußischen Polizei-Ideal, so geschehen auch mit Černyševskij und seinen paradoxen Vereinfachungen. So geschehen mit allen großen Konservativen der Menschheit, deren wissbegieriges, fortschrittliches Denken sich nur in verwandelter, ja in ihr Gegenteil verkehrter Form ausdrücken konnte.“ So geschehen auch mit Lifšic und seinem Ideal einer neuen Renaissance, mit seinem Verständnis des Sowjetstaates als zum gegebenen Zeitpunkt einzig möglicher Verkörperung der kommunistischen Idee, mit seinem Begriff des ‚sozialistischen Realismus‘ (den er allerdings erst ab den siebziger Jahren benutzte, was in gewissem Maß schon an Majakovskijs gelbe Jacke erinnerte) und mit seinem programmatischen Antimodernismus.
Letzteres Thema ist für uns besonders wichtig. Der Mythos von der inneren Verwandtschaft der Avantgardekunst mit der russischen Revolution zählt zu den am schwersten auszurottenden Banalitäten unserer Zeit. Die marxistisch-leninistische Ästhetik war und bleibt die einzige Denkrichtung, die diese Verwandtschaft einer ‚genetischen Analyse‘ unterzogen hat und zu ganz anderen Ergebnissen gelangt ist. Gerechtigkeitshalber muss man dazusagen, dass die marxistische Ästhetik, da sie dieser Kunst keinen Zugang zu den Museen gewährte, auch als einzige in der Lage war, sich ernsthaft mit dem Anspruch des Modernismus auseinander zu setzen, dass hier etwas wirklich Neues vorliege – etwas, das von allem, was die Kultur bis dahin hervorgebracht hatte (vom Wilden bis zur Akademie, in Malevičs Worten), prinzipiell verschieden sei. Mehr noch, nur die marxistisch-leninistische Ästhetik, die diese Phänomene beharrlich als Antikunst schlechthin bezeichnete, hielt die Erinnerung daran, wie alles angefangen hatte, jahrzehntelang wach. Indem sie die avantgardistische Methode ablehnte, ließ sie sie intakt und hielt ihre Besonderheit fest. (Anzumerken ist auch, dass diese Kunst in der marxistischen Tradition nicht als entartet bezeichnet werden konnte. Was man ihr vorwarf, war gerade die Hypertrophie der Reflexion, des intellektuellen Elements, das bis zur Selbstverleugnung weiter entwickelt wurde.)
Der Marxismus hat von den ersten Tagen seiner Existenz an die ‚rücksichtslose Kritik alles Bestehenden‘ postuliert. Die Avantgardekunst erhebt denselben Anspruch. Selbst in den bekannten Werken, in denen sie sich vor der Welt des Konsums verneigt, gelingt es ihr, dies auf eine Weise zu tun, dass selbst der Konsum noch erröten muss. Doch der Marxismus sieht in dieser Kunst keine Gleichgesinnte. Die Revolution in der Kunst wurde vom Land der Revolution nicht angenommen. Sie wurde vielmehr entschieden und vom ersten Tag an abgelehnt, was seinen Niederschlag fand in der vorrevolutionären marxistischen Kritik der Dekadenz, in Lenins Kulturpolitik und in einer Reihe von eindeutigen Aussagen aus seinem Munde, deren bekannteste zur Avantgarde lautet: „absurdeste Grimassen“.
Die übliche Erklärung dafür trennt strikt zwischen Lenin als Revolutionär und Lenin als Mensch mit traditionalistischem, beinahe bürgerlichem Geschmack. Nicht viel besser steht es um Marx und seine Vorliebe für Aischylos und Shakespeare. Derlei Ansichten widerlegen zu wollen, führt zu nichts. Für die in der Sowjetunion entwickelte Ästhetik aber waren die genannten Tatsachen von zentraler Bedeutung. Aus sämtlichen von Lifšic skrupulös zusammengetragenen Äußerungen von Marx, Engels und Lenin zur Kunst ergaben sich eher unerfreuliche Schlussfolgerungen für das Bündnis zwischen der proletarischen Revolution und dem Modernismus. Der Avantgardismus kann zwar ein kritisches Verhältnis zu den Texten des klassischen Marxismus pflegen, eine Apologie seiner selbst hingegen wird er in ihnen nicht finden.
Das heißt allerdings nicht, dass der Marxismus ihn nicht verstanden hätte. Den berühmten Abschnitt über die Entfremdung aus den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 kann man als Übersetzung des hegelschen Gedankens vom Ende der Kunst in die Sprache des Materialismus ansehen. Marx beschreibt die entfesselte Warenproduktion in der Epoche des Kapitalismus als den Menschen versklavende Kraft, eine zermürbende, zerstörerische Kraft. Insofern steht der Kapitalismus einer geistigen Produktionsform wie der Kunst feindlich gegenüber. Im augenfälligen Reichtum der gegenständlichen Welt findet der Mensch nicht die Poesie der realen Formen, sondern seine soziale Armut, Knechtschaft, Entäußerung – seine Entwirklichung.
Es bedurfte weiterer siebzig Jahre, bis dieser Gedanke von Künstlern in der Idee der ungegenständlichen Kunst umgesetzt wurde, für die die rohe Welt aus Fleisch und Blut feindselig und deshalb nicht darstellbar ist. Daher auch die eindringliche Poesie, die Künstler in Produkten der Sanitärtechnik oder in Suppendosen entdeckt haben. Noch der banalste vom Fließband rollende Gegenstand, den der Mensch zu seinem eigenen Schaden geschaffen hat, wird als Gefäß von Menschlichkeit gesehen. „Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit, umso gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst.“ „Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst,“ schreibt Marx. Heute versetzt der Mensch sich selbst in eine Konservendose und betet diese an. Und auch das ist nicht allzu neu. Einst begann die Kunst mit der rituellen Anbetung von Readymades aus der Natur, von groben, unbearbeiteten Steinen.
Man könnte sagen, dass die Kunst des 20. Jahrhunderts den marxschen Text illustriert, und in gewissem Maß ist dies tatsächlich so. Darin liegt die Wahrheit des Modernismus. Er zeichnet eine durch und durch entpoetisierte Realität, die Trostlosigkeit des überflüssigen Bewusstseins in einer Situation, in der der Mensch keinerlei Möglichkeit hat, auf sein Schicksal Einfluss zu nehmen. Er zeigt unvergleichliche Bilder dieses schier unerträglichen schmerzlichen Zustands, und deren Zeugnis ist echt. In der Sprache der marxistisch-leninistischen Ästhetik, zu deren zentralen Begriffen der des ‚Abbilds‘ zählt, wird einer Welt, die ihre historische Rechtfertigung eingebüßt hat, ein geringer Grad von Abbildbarkeit zugeschrieben. Die in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 konstatierte Abbildbarkeit tendiert bereits gegen Null.
Allerdings gibt es in diesem Text einen weiteren Abschnitt, der sich einer Illustration durch die Verfahren modernistischer Kunst entzieht. Es geht dabei, der Leser ahnt es schon, um den Kommunismus. Den Kommunismus definiert Marx als „positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewusst und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus Humanismus, als vollendeter Humanismus Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“
Was hat die Avantgardekunst zu diesem wahrhaften Sein, zu diesem Reich des Echten und Edlen, dieser Norm des freien Menschen, diesem Ideal der Zukunft zu sagen? Nicht einfach nur nichts. Der Avantgardismus ist die plastische Negation all dessen. Er gibt Rätsel auf, für die keine Auflösung existiert, und ist in erster Linie bestrebt, dem ‚ganzen Reichtum der bisherigen Entwicklung‘ den Garaus zu machen. Er ist eine Illustration nicht des oben zitierten Abschnitts, sondern von Lenins Worten aus dem Jahr 1914 über das Nahen einer Minute, die sämtliche Grundlagen des kulturellen Lebens zerstören könne und unausweichlich zerstören werde.
Marx schreibt über eine Welt, in der dem gesellschaftlichen Leben eine vernünftige Ordnung zugrunde liegt, in der man sich selbst keine Gewalt antun und sich nicht für tot halten muss, um eine Harmonie zwischen Bewusstsein und Objekt zu erreichen. Der Modernismus beschäftigt sich mit derselben Problematik, steht aber für eine alternative Lösung. Er betont die Unüberwindbarkeit der Kluft zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Deren greifbare Erscheinung ist die unendliche Distanz zwischen dem Bewusstsein und dem, was diesem Bewusstsein als Kunst dargeboten wird.
Welches Kunstsystem ist im 20. Jahrhundert an der Stelle gewachsen, wo jetzt – wäre das revolutionäre Projekt verwirklicht worden – die Kunst nach traditionellem Verständnis stünde? Es ist ein gigantischer Mechanismus, dessen schiere Mächtigkeit jeden Zweifel daran, ob all dies wirklich Kunst ist, ausräumen soll. Gewicht, Menge und drucktechnische Perfektion der Ausstellungskataloge, die suggestiven Texte der Kunsthistoriker, die raffinierte Beleuchtung und die Alarmanlagen in den Museen, dazu die Preise, die Preise – alles ist dazu angetan, Zweifel am Kunstcharakter dessen, was wir vor uns haben, zu zerstreuen. Doch die Zweifel bleiben bestehen, und zwar vor allem bei den Spezialisten, die doch andere überzeugen sollen. Es bleibt jenes alte, naive, von Lenin einmal im Gespräch mit Clara Zetkin zum Ausdruck gebrachte Gefühl: Ich verstehe das nicht, es macht mir keine Freude. Und es bleibt das System der wechselseitigen Bürgschaft in der Expertengemeinde, das Lifšic vor vielen Jahren schon als Verschwörung der Eingeweihten bezeichnet hat.
Wenn die kommunistische Idee trotz aller übermenschlicher Anstrengungen in ihrem Versuch gescheitert ist, die Substanz des wirklichen Lebens in einen Zustand der Harmonie zu versetzen, so geschieht dasselbe in jedem avantgardistischen Kunstwerk. Jeder Betrachter, der bestürzt und ratlos vor den Trümmern realer Gegenstände oder schlichten Nachbildungen, vor Kotproduktionsmaschinen, altem Gerümpel, Filz, elementaren geometrischen Figuren und anderen musealen Kostbarkeiten des vergangenen Jahrhunderts steht, durchlebt eben dieses historische Drama. Doch es bleibt immer ein wesentlicher Unterschied: Der Urheber des Kunstwerks hat nicht einmal versucht, seine Arbeit zum Abschluss zu bringen. Vielmehr richteten sich all seine, nicht selten gewaltigen Anstrengungen, für die Phantasie, manchmal echtes Talent und zuweilen auch Können nötig waren, auf das exakte Gegenteil: darauf, die Vernunft auf Abstand zu halten und sie nicht in die Falle des Objekts tappen zu lassen. In diesem Drama des Künstlers, dessen Denken in einem trostlosen Schwebezustand verharrt, immer anderswo, nie im Werk, während das Kunstsystem es gleichzeitig am gänzlichen Abheben hindert, findet der Museumsbesucher einen gewissen Trost. Hat das Bewusstsein im realen Leben eine Niederlage erlitten, da es noch nicht einmal in der Lage war, eine Amtsreform durchzuführen, und da die ‚Einsicht‘ die Kluft zwischen sich selbst und den ‚tatsächlichen Kräfteverhältnissen‘ nicht überwinden konnte, so bedeutet eben dieses Phänomen im Werk der Avantgardekunst einen Triumph, denn genau so war die Sache gedacht. Wir sehen einerseits den Extremfall historischen Scheiterns, andererseits die Genauigkeit von Planung und Verwirklichung. Das Ergebnis übertrifft die kühnsten Erwartungen. Man kann hier nicht von Niedergang sprechen, schreibt Lifšic, in Epochen des Niedergangs gibt es noch eine lebendige Erinnerung an die Errungenschaften der Vergangenheit, ein Schuldgefühl, ein Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit.
Der junge Marx hat gesagt, „das Bewusstsein ist eine Sache, die ... [die Welt] sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will.“ Die Idee des modernistischen Werks ließe sich so formulieren: „Das Bewusstsein ist eine Sache, die die Welt sich nicht aneignen kann, so sehr sie auch will.“ Alle Anstrengungen dieser Kunst sind darauf gerichtet, die Vergeblichkeit jeder Anstrengung zu zeigen.
Die marxistisch-leninistische Ästhetik beschreibt den Avantgardismus in ihrer Analyse als Fabrik von Seufzern der bedrängten Kreatur, womit sie sich auf Marx’ in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie dargelegte Religionsauffassung bezieht. Der Modernismus ist der Ausdruck des wirklichen Elends der kapitalistischen Welt und der Protest gegen dieses Elend in einem. Er ist der Geist geistloser Zustände, das Herz einer herzlosen Welt. Er ist das Opium der Intellektuellen. Der Kampf gegen den Modernismus ist der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma der Modernismus ist. Die Abschaffung des Modernismus als ‚illusorischer‘ Kritik der Welt ist die Forderung ihrer ‚wirklichen‘Kritik. Die Kritik des Modernismus ist die Kritik an Verhältnissen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, hilfloses, verachtungswürdiges Wesen ist. Ein offensichtlicher Beweis für die Radikalität der marxistischen Ästhetik ist die Tatsache, dass ihr Ausgangspunkt die entschiedene, positiveAufhebung des Modernismus war.
Die praktische Umsetzung solcher Ideen war in der Sowjet-Ära nur sehr begrenzt möglich, sie blieben auf das Reich der Bücher, die Welt der Worte beschränkt (unter Berücksichtigung des wesentlichen Zusatzes, dass die Worte eines Dichters, laut Puschkin, bereits seine Taten sind). Die Kunst bezeugte die Hilflosigkeit des Menschen, daran war nichts zu ändern. Und auch die marxistisch-leninistische Ästhetik selbst war in weltlichen Dingen hilflos, hatte auf den realen Lauf der Ereignisse selbst in der sowjetischen Kunst so gut wie keinen Einfluss. Sie blieb eine freie Äußerung intellektueller Kreativität und betrachtete jedes utilitaristische Verhältnis zu geistiger Tätigkeit als typische Erscheinung der bürgerlichen Epoche. Man kann sagen (wenn man es denn über die Lippen bringt), dass darin die Schwäche dieser Ideen lag. Dies war der Preis für den hohen Wert dessen, was durch sie verteidigt wurde, und für die Tiefe ihrer Analyse.
Das Hauptproblem war jedoch nicht die fehlende praktische Umsetzbarkeit, sondern die Unverständlichkeit dieser Texte – die Tatsache, dass sie in der Sowjetunion wie Ultraschall klangen, außerhalb des wahrnehmbaren Bereichs. Zu stark verschmolzen war die marxistisch-leninistische Ästhetik mit der Realität des Sozialismus, mit einem rohen, unbedachten Kommunismus. Als ihr materielles Substrat betrachtete man keineswegs beschriebenes Papier, sondern ein Sechstel der Erdoberfläche, den einigermaßen scheußlichen Alltag von Millionen Menschen, die neuesten Rüstungssysteme, einen kolossalen Repressionsapparat und eine staatlich subventionierte Kulturpolitik. Man verband sie mit allem, was den Triumph des Kommunismus hatte gewährleisten sollen und den Sieg der Wahrheit als Übereinstimmung zwischen dem Leben und seinem Begriff, als besseres, vollkommenes Leben hatte realisieren sollen – was darin aber versagt hatte. Und es hatte nicht nur versagt, sondern man verlangte auch noch, eben diese, allmählich von regelrechtem Verfall gezeichneten Deformationen sollten als wahr gewordener Wunschtraum anerkannt werden.
Die marxistische Ästhetik war sich dessen bewusst, viel klarer als andere. Sie hielt es nicht für nötig, dieses Wissen allzu sichtbar zu präsentieren, verbarg es aber auch nicht. Heute liest sich Lifšic’ zum fünfzigjährigen Jahrestag der Revolution verfasster und 1967 von der Zensur zurückgehaltener Text Nravstvennoe značenie oktjabr’skoj revoljucii (Die moralische Bedeutung der Oktoberrevolution) wie die bittere Erzählung vom Scheitern einer großen Sache. Dieser Text enthält keinerlei abgeschmackte Naivität, aber auch nichts von einem noch abgeschmackteren Verzicht auf Ideen. Kann man denn aus einer Situation, in der die Wirklichkeit sich nicht ‚mit‘dem Denken entwickelt, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung, und in der die Sache nicht mehr zu retten ist, nur den Schluss ziehen, dass das Denken folglich im unnützen Hin und Her der Reflexion stecken bleiben muss, in einer aussichtslosen, unaufhörlichen Frustration? Oder soll das Denken sich idealerweise ganz verleugnen? Nicht unbedingt. Erinnern wir uns noch einmal an unser Motto. Das Denken bekommt unter solchen Bedingungen Gelegenheit, sich selbst genauer zu fassen. Das Lächeln steht für die Einsicht, dass selbst unter den aussichtslosesten Umständen das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, und welches Wort wäre denn auch je das letzte?
Wie sehen diese Vorgänge aus postkommunistischer Perspektive aus, da von der historischen Realität, aus der die marxistische Ästhetik entstand, nur noch rohe, unreflektierte Erinnerungen geblieben sind? Der Modernismus wirkt aus solcher Höhe betrachtet wie ein Anachronismus. Er bildet sich noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung. Mit jedem Tag muss die Einbildungskraft dafür mehr angestrengt werden. Auf der anderen Seite bestehen heute keinerlei immanente Gründe, die marxistisch-leninistische Ästhetik zu ignorieren. Ihre Texte dienen dem Verständnis der postkommunistischen Situation, denn faktisch waren sie auch ein Versuch, eben diese Situation in den dreißiger Jahren – den Ereignissen um viele Jahre voraus – zu begreifen. Doch der Hauptvorzug von Lifšic' Schriften der dreißiger Jahre liegt nicht darin. Inmitten völliger Verwüstung an heiliger Stätte bewahrten sie unter der Asche noch die Wärme der ersten Jahre nach der Revolution, eine lebendige Erinnerung an die besten Momente der Vergangenheit. Es waren wenige, denen dies während des unaufhaltsamen Niedergangs gelang. Man muss für alles bezahlen in dieser gerechtesten aller Welten. Der Preis für die Rettung des Andenkens an die Idee der Oktoberrevolution war die Tatsache, dass diese Bücher selbst aus dem kulturellen Gedächtnis ausgelöscht und verbannt wurden, ins Reich des historischen Vergessens. Im Licht der Gegenwart jedoch sind sie von den Abfallprodukten jener Zeit deutlich zu unterscheiden. Ihre Autoren mochten sich selbst schon für tot halten, wir aber sollten ihnen in diesem Irrtum nicht folgen.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Gutov, Dimitrij, Die marxisitisch-leninstische Ästhetik in der postkommunistischen Epoche. Michael Lifsic, in: Groys, Boris, von der Heiden, Anne, Weibel, Peter (Hg.), Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt am Main 2005.
[1] Der Autor des vorliegenden
Textes weist die Quellen der zitierten Werke in den Fußnoten nicht nach.
Informationen zu vielen der zitierten Texten finden sich - wie oben angegeben -
auf seiner Internetseite: http://www.gutov.ru/lifshitz. [A.
d. Hg.]
[2] Ein Zitat aus dem dritten Teil des Romans, Kapitel 26.
In der Übertragung von Fred Ottow lautet die Stelle, etwas unauffälliger: „in
unserer Zeit des Umbruchs und des Übergangs“ (Lev Tolstoj, Anna Karenina,
München 1978, S. 396). [A. d. Ü.].
[3] Im
Original deutsch. [A. d. Ü.]
[4] Gutov
bezieht sich hier auf ein möglicherweise nicht ganz korrektes Zitat aus einem
Brief Karl Marx' an Arnold Ruge aus dem Jahr 1843: „Wir
entwickeln der Welt aus den Principien der Welt neue Principien. Wir sagen ihr
nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die
wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich
kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss,
wenn sie auch nicht will.“, in: Marx, Karl, Werke. Artikel. Entwürfe, März
1843 bis August 1844 (Marx, Karl, Engels, Friedrich, Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band 2), Berlin 1982, S. 488. [A.
d. Ü.]